IS DER ZEIT VORAUS: MY MORNING JACKET IM KOSMOS IHRER EIGENEN SCHÖPFUNG
Zeit ist ein flüchtiges Konstrukt. Manchmal dehnt sie sich aus wie ein philosophisches Kaugummi, manchmal implodiert sie in sich selbst wie ein schwarzes Loch des Augenblicks. Zehn Alben später steht My Morning Jacket am Rande eines inneren Universums, das sie selbst erschaffen haben, mit einem Werk, das sie schlicht "is" nennen – dieser grammatikalische Mini-Existenzbeweis, dieses Hier-Sein-Ohne-Wenn-Und-Aber. Keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen, bloß die reine Präsenz. Selbstbehauptungsminimalismus in einer Welt voller schreiender Plattentitel und marktschreierischer Albumkonzepte. Und irgendwie ist das sowas von typisch für My Morning Jacket, diese musikalischen Hinterwäldler-Philosophen aus dem Bourbon-Land Kentucky, die sich seit ihrer Gründung 1998 hartnäckig einer Schubladisierungsglückseligkeit verweigern.
Erstes Wundermittel gegen die Musealisierung einer Band, deren Debüt-Langspielplatte "The Tennessee Fire" mittlerweile ein Vierteljahrhundert alt ist: Hol dir den Produzenten Brendan O'Brien an Bord. O'Brien, dieser Sound-Zauberer, der Pearl Jam und Springsteen kuriert hat, wenn sie nach dem Weg gesucht haben. Frontmann Jim James, sonst ein notorischer Kontrollfetischist mit Selbstproduktionswahnvorstellungen, hat zum ersten Mal in der Bandgeschichte die Zügel aus der Hand gegeben. Heiliger Kontrollverlust! "Es fühlte sich fast wie eine Außerkörpererfahrung an", zitiert die Presse den bärtigen Kopf der Band. Man stelle sich vor: Ein Mann, der Alben lang den Klang seiner Band wie einen Privatbesitz gehegt und gepflegt hat, übergibt den Schlüssel zum Studio an einen anderen. Selbstentmachtungsmut als kreative Befreiung – und wir alle wissen seit unserer ersten gescheiterten Beziehung, wie schwer es ist, loszulassen.
Die Songs auf "is" klingen wie eine Heimsuchung von Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig. Sie tragen Spuren dessen, was My Morning Jacket ausmacht: Diese atmosphärische Lagerfeuer-trifft-Weltraum-Ästhetik, diese hallbadende Stimme von James, die manchmal klingt wie ein Roy Orbison, der auf dem Mond gelandet ist. Aber gleichzeitig haben sie etwas Frisches, Unverbrauchtes. Als hätte sich die Band – nach knapp drei Dekaden des Bestehens – endlich von ihrem eigenen Schatten befreit, diesem musikalischen Doppelgänger, der einen durch die Karriere verfolgt wie ein wohlmeinender Stalker.
"Time Waited" – erste Single, mittendrin statt nur dabei – beginnt mit einer meditativen Klavier-Schleife, die man sich nach drei Uhr morgens vorstellen muss, mit einem restalkoholisierten Hirn und diesem Gefühl, dass alles gleichzeitig bedeutungslos und von kosmischer Wichtigkeit ist. Langsam baut sich die Nummer auf, entfaltet sich wie eine Blume in Zeitraffer, bis sie plötzlich explodiert in einem typischen My-Morning-Jacket-Feuerwerk aus kathartischer Befreiung. James singt von der Flexibilität der Zeit, wie wir sie biegen und verzerren können. Zeitwahrnehmungselastizität als Songthema – ein durchaus gewagter Ansatz, der funktioniert, weil die Musik selbst die Zeit spürbar macht, ihre Dehnbarkeit, ihre emotionale Subjektivität.
Zehn Songs – eine perfekte Rundreise durch den Kosmos von My Morning Jacket, aber ohne die Langstreckenfluglangeweilegefühle früherer Alben. Brendan O'Brien hat die Band auf Ökonomie getrimmt, 39 Minuten und 1 Sekunde dauert die ganze Geschichte. In einer Zeit, in der jeder zweite Künstler glaubt, ein Konzeptalbum mit 24 Tracks sei ein guter Gedanke, ist diese Konzentrationskunst ein Statement. Keine Überfrachtungsallüren, kein Materialbombentum.
"I Can Hear Your Love" rollt mit einer Melodie daher, die so vertraut klingt wie ein Song, den man vergessen hat, den man aber nie wirklich kannte. Eine dieser Nummern, bei der man unwillkürlich prüft, ob es sich nicht um ein geschicktes Plagiat handelt – jener schmale Grat zwischen Hommage und gestohlener Ware, der die Popmusik seit Elvis' Zeiten begleitet wie ein treuer Anwalt mit ungeklärtem Stundensatz. Die Nummer ist "chipper", wie der Amerikaner sagen würde – zu fröhlich für die tiefgründigen Existenzwassertretübungen, die man sonst von der Band kennt. Aber gerade diese Wendung ins unbeschwerte Terrain macht die Platte spannend. Die Band gönnt sich einen unbefangenen Moment, ein kleines Stück Glückseinsinn in einer Diskografie, die sonst nicht selten von Schwermut durchtränkt ist wie ein Oktober-Spaziergang in Norddeutschland.
Doch dann kommt "Squid Ink" – und plötzlich sind wir in einer musikalischen Landschaft unterwegs, die an einen Traum erinnert, den David Lynch nach dem Verzehr halluzinogener Tintenfischschwärze haben könnte. Der Song schlingert über einen knorrigen Groove, und verfängt sich in seiner eigenen merkwürdigen Logik. Die Kritiker werden sich hier spalten wie das Rote Meer vor Moses – die einen werden von "Unsinn" sprechen, von "bedeutungslosen Texten" und "ziellosen Jams". Die anderen werden darin genau die Art von Experiment sehen, die eine Band im zehnten Album braucht, um nicht in eine kreative Sackgasse zu geraten. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte, in diesem Niemandsland zwischen Geniestreich und Fehlzündung, wo die interessantesten musikalischen Mutationen stattfinden.
Eine Tatsache bleibt: My Morning Jacket hat mit "Squid Ink" einen Song aufgenommen, der sich jeglicher Kategorisierung entzieht. Dieses enge Kästchensystem, in das wir alle Musik stopfen wollen wie übergewichtige Urlauber ihre Koffer am Rückreisetag, versagt hier komplett. Statt Americana bekommen wir Bizarrerica, statt Indie-Hymnen psychedelisches Stammeln. Man merkt: Das ist kein Zufallsprodukt, sondern ein bewusster Ausbruchsversuch aus der eigenen Komfortzone. Risikomentalität statt Altherrenrockroutine.
Die Wahrheit ist: Diese Band war nie Teil eines Mainstreams, und selbst nach den kommerzielleren Ausflügen mit "Evil Urges" (2008) oder den Waterfall-Platten (2015/2020) bleibt etwas Unzähmbares, etwas bewusst Sperriges in ihrem Ansatz. Sie sind die Indie-Band, die zu groß für die kleinen Clubs wurde, aber nie ganz in die Arenen passte – dieser ewige Zwischenzustand, den nur wenige Bands wie Wilco oder The National mit ähnlicher Eleganz gemeistert haben.
Letztendlich ist "is" ein Album, das man nicht in einem schnellen Durchgang konsumieren kann – ein Kuriosum in Zeiten der Dreißig-Sekunden-TikTok-Aufmerksamkeitsspanne. Es entfaltet sich langsam, verlangt Geduld, Zeit, Hingabe. Wie ein guter Bourbon, der erst nach dem dritten Glas seine versteckten Noten offenbart, braucht dieses Album mehrere Durchgänge, um seine wahre Qualität zu zeigen. Die Produktion von O'Brien gibt dem Material eine Tiefe und Klarheit, die My Morning Jacket zuletzt manchmal gefehlt hat – jedes Instrument hat seinen Platz, aber nichts klingt steril oder überpoliert.
Schön zu sehen, wie Jim James und seine Männer nach all den Jahren noch immer neues Terrain erkunden. Die Versuchung, ein Karriere-Best-of in neuen Liedern zu reproduzieren, muss groß gewesen sein. Stattdessen haben sie sich für den schwierigeren Weg entschieden, haben neue Klangräume gesucht und gefunden. Im zehnten Album eine seltene Tugend – Experimentierfreudigkeit statt Selbstzufriedenheitsbewahrung.
"is" wird nicht jeden My-Morning-Jacket-Fan sofort begeistern. Zu kantig sind manche Arrangements, zu ungewohnt einige der Wendungen. Aber vielleicht liegt genau darin die Qualität dieser Platte: Sie fordert heraus, stellt Fragen, gibt nicht immer einfache Antworten. In einer Musiklandschaft voller Algorithmus-optimierter Drei-Minuten-Häppchen ist das eine erfrischende Ausnahme.
Und am Ende bleibt ein Album, das den simpelsten und zugleich komplexesten Zustandsbegriff unserer Sprache als Titel trägt: "is". Nicht mehr, nicht weniger. Eine Feststellung, keine Frage. Kein Versprechen, keine Drohung. Einfach ein Sein. Und vielleicht ist das die beste Beschreibung für eine Band, die bei aller Veränderung, bei allen Besetzungswechseln und stilistischen Häutungen immer sich selbst treu geblieben ist. My Morning Jacket is. Und das ist, trotz aller Unwägbarkeiten unserer Zeit, ein verdammt beruhigender Gedanke.