Lineares Fernsehen: Die Dinosaurier sterben aus – aber nicht in Deutschland
Das lineare Fernsehen ist wie ein alter Kassettenrekorder in der Wohnzimmervitrine – jeder weiß, dass es Besseres gibt, aber niemand traut sich, ihn wegzuwerfen. Achtzig. Eins. Prozent. Die Zahl hängt im Raum wie ein überdimensionales Neonkreuz über dem Altar der Nostalgie. 81 Prozent der Deutschen schalten ein, als wäre nichts passiert, als hätte es nie diesen Moment gegeben, in dem Netflix-Chef Reed Hastings 2011 verkündete, DVD-Vermietung sei so überholt wie der Pony Express. Aber hier, in diesem Land der Dampflok-Romantik und der Dauerwerbesendungen für Teppichklopfer, lebt das Urgestein weiter. Es lebt, weil es nie wirklich gelebt hat – es war einfach immer da. Wie die Brotdose in der Schulzeit, die man nie mochte, aber auch nie vergaß.
Dabei könnte man meinen, die Sender hätten längst aufgegeben. Stattdessen polieren sie ihre Reliquien. ARD und ZDF streichen 2025 die SD-Übertragung – Standard Definition, dieses verwaschene VHS-Flimmern unserer Kindheit. Nur noch HD, als ob man einem Methusalem Lippenstift verpasst. „Hochauflösung“ nennen sie das. Hochauflösung für Nachmittagstalkshows, in denen über Rentenlücken diskutiert wird, während die Kamera jedes Porenbild eines Gesichts einfängt, das seit Kohlkanzlerschaften unverändert bleibt. Die Umstellung gleicht dem Versuch, eine Diesel-Lokomotive mit Biodiesel zu betanken – der Qualm bleibt, nur etwas grüner vielleicht. Und doch: Die Zuschauer bleiben. Nicht alle. Aber genug. Genug, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass das 20. Jahrhundert niemals enden wollte.
Gleichzeitig werkeln sie an DVB-I herum, diesem Frankenstein-Projekt aus Brüsseler Bürokratie und Münchner Ingenieursstolz. Ein neuer Fernsehstandard, der alles vereinen soll: Kabel, Satellit, Antenne, Streaming. Als ob man eine Autobahnbrücke aus Lego-Steinen bauen wollte, die gleichzeitig Pferdekutschen, Tesla-Cybertrucks und Fahrräder tragen kann. Die Technokraten versprechen eine „einheitliche Bedienoberfläche“ – dieser Begriff allein ist schon ein Widerspruch in sich, in einem Land, wo jeder zweite Fernseher noch mit drei verschiedenen Fernbedienungen operiert. DVB-I soll lineares Fernsehen über IP-Streaming ermöglichen, ohne Apps, ohne Umschalten. Als ob „umschalten“ je das Problem war. Das Problem ist, dass niemand mehr weiß, warum er überhaupt noch einschalten sollte.
Und doch gibt es sie, diese Paralleluniversen. In Wohnzimmern, wo der 85-Jährige Horst tagtäglich den „Tatort“ von 1987 anschaut, während seine Enkelin nebenbei TikTok-Videos auf dem Smartphone scrollt – beides linear, beides in Endlosschleife, aber nur eines davon nennt sich offiziell „Fernsehen“. Die Jugend, so zeigen es die Zahlen, flüchtet. Nur 25 Minuten pro Tag bei den 14-19-Jährigen, während die über 65-Jährigen sich sechs Stunden lang in die Mattscheibe versenken wie in ein therapeutisches Wärmebad. Es ist, als hätte man den Bahnhofswartesaal der Nation in zwei Flügel geteilt: Links die Lounge mit Samtvorhängen und ARD-Buffet, rechts das Start-up-Labor mit LED-Wänden und Spotify-Playlists. Beide Räume existieren, berühren sich nicht, atmen dieselbe Luft.
Die Werbetreibenden indes hofieren weiterhin das alte Medium, als wäre es eine betagte Geliebte, der man aus Pflichtgefühl Blumen schickt. „Reichweite“ ist das Zauberwort, beschworen wie ein mittelalterlicher Ablasshandel. Dabei wissen alle: Die wahre Macht liegt längst bei den Algorithmen, die genau berechnen können, wann man nach dem dritten Glas Wein bereit ist, für überteuerte Fitnessbänder zu zahlen. Lineare Werbung wirkt noch, aber wie Aspirin wirkt – man spürt keine Schmerzen mehr, aber die Entzündung brodelt weiter. Trotzdem basteln sie an „Addressable TV“, dieser digitalen Verheißung, die Werbespots zielgenau in Haushalte schießen soll. Als ob man mit einer Schrotflinte plötzlich Laserpräzision erreichen könnte. Die Technik existiert, ja. Nur die Sehnsucht nach dem großen gemeinsamen Werbeerlebnis – die ist erfroren im Permafrost der individualisierten Timeline.
Zwischen all dem wandert DVB-I wie ein Geist durch die Flure. 2022 startete das Pilotprojekt, 2024 der „Runde Tisch“ mit ARD, ZDF, RTL – diese deutschen Tugenden: Ordnung, Sitzfleisch, Kommissionen. Sie diskutieren Servicelisten-Aggregation, DRM-Verschlüsselung, Gerätezertifizierung. Als ob man beim Untergang der Titanic noch über die korrekte Faltung der Servietten debattierte. Die Vision: ein Fernseher, alle Kanäle. Die Realität: Ein Fernseher, der nicht mal mehr weiß, ob er nun streamt oder sendet, Hauptsache, er läuft weiter. Vielleicht ist das der eigentliche Triumph des linearen Prinzips – es ist die letzte analoge Bastion in einer digital zerfressenen Welt. Ein Fels in der Brandung, der langsam, ganz langsam, zu Sand zerrieben wird. Aber bis dahin strahlt er. Immer weiter. Immer da