Das Fernsehen stirbt. Wieder einmal. Alle paar Jahre wird das Ende des Fernsehens angekündigt, ein medialer Totenschein ausgestellt, unterschrieben von diversen Experten, die auf Konferenzen mit Lanyard um den Hals prophezeien, dass der große Flachbildschirm bald so obsolet sein wird wie die Kompaktkassette. Und doch steht er da, der TV-Altar in unseren Wohnzimmern, jetzt nur eben flacher, schärfer, smarter. Jetzt mit KI. Alles wird mit KI. Man kann sich ja gar nicht mehr ins Internet trauen, ohne irgendwo in dieser allumfassenden Abkürzung zu ertrinken. KI im Kühlschrank, KI in der Kaffeemaschine – und natürlich KI im Fernseher. Die alles überragende Frage dabei: Wird es besser? Oder nur anders? Oder anders und schlechter? Die übliche Melange aus Fortschritt, Marketing und allgemeiner digitaler Dauerpubertät.
Die Daten sprechen eine klare Sprache. Laut des aktuellen "TV Key Facts-Reports" der RTL Ad Alliance schalten immerhin 53 Prozent der Europäer zuerst das lineare Programm ein, wenn sie den Fernseher anmachen. Eine Mehrheit, wenn auch knapp. Als hätten wir alle kollektiv beschlossen, jeden Abend erstmal zu schauen, ob auf den üblichen Verdächtigen etwas läuft, bevor wir uns in die Untiefen der Streaming-Dienste stürzen. Die durchschnittliche tägliche Sehdauer in Europa beträgt 3 Stunden und 13 Minuten. Das ist viel Zeit für einen Apparat, der angeblich am Sterben ist. Die TV-Welten, linear und digital, verschmelzen, bilden Synergien. Der Bildschirm bleibt, nur der Inhalt kommt jetzt von überall.
Jahrzehntelang war das Serial Digital Interface (SDI) der Standard für professionelle Fernsehübertragungen. SDI war zuverlässig, robust und vor allem eines: berechenbar. Doch es war auch teuer, unflexibel und aufwendig zu skalieren. Die Zukunft heißt IP-basierte Produktion – ein radikaler Paradigmenwechsel hin zu Netzwerk-Technologien, die wir bisher eher aus der IT-Welt kannten. Sender wie Al Jazeera, BBC oder Sky haben diesen Schritt bereits vollzogen und profitieren von enormer Flexibilität und Skalierbarkeit. Inhalte können nun schneller verteilt, Signale effizienter verarbeitet und Produktionen standortunabhängig realisiert werden. Doch IP allein ist nur die Infrastruktur – erst durch Künstliche Intelligenz entfaltet sich ihr volles Potenzial. KI-basierte Systeme revolutionieren gerade nahezu jeden Aspekt der TV-Produktion: von der Planung über die Produktion bis hin zur Distribution und Archivierung.
Nehmen wir die Live-Übertragung eines Sportevents: Wo früher zahlreiche Kameraleute manuell jede Bewegung einfingen, übernehmen heute automatisierte Kamerasysteme mit KI-gesteuerter Objekterkennung diese Aufgabe. Kameras verfolgen eigenständig den Ball oder einzelne Spieler, erkennen Spielsituationen in Echtzeit und liefern dem Regisseur automatisch Vorschläge für optimale Einstellungen. Unternehmen wie EVS oder Pixellot bieten bereits solche Lösungen an – sie reduzieren Personalaufwand drastisch und ermöglichen eine präzise Inszenierung des Geschehens ohne menschliches Zögern oder Fehleranfälligkeit.
Auch in der Bildregie selbst hält KI Einzug: Algorithmen analysieren laufend alle verfügbaren Kamerabilder, erkennen Gesichter, Emotionen oder besondere Ereignisse sekundengenau und erstellen automatisierte Highlight-Clips für Social Media oder Mediatheken. RTL2 nutzt diese Technologie bereits bei Reality-Shows wie „Big Brother“: Eine KI wertet stundenlanges Rohmaterial aus, erkennt Beziehungen zwischen Kandidaten anhand von Stimmlagen, Gestik und Interaktionen – und generiert daraus eigenständig Highlight-Clips fürs Netz. Die Maschine entscheidet also nicht nur über Schnittfolgen, sondern auch darüber, welche zwischenmenschlichen Momente sehenswert sind.
In der Nachrichtenproduktion übernimmt KI zunehmend Aufgaben wie automatische Transkription von Interviews in Echtzeit, Erstellung von Untertiteln oder sogar simultane Übersetzungen bei internationalen Live-Schaltungen. Systeme wie Speechmatics oder DeepL ermöglichen es Sendern heute schon, Inhalte nahezu verzögerungsfrei in mehreren Sprachen bereitzustellen – ein enormer Vorteil in einer globalisierten Medienwelt. Doch auch hinter den Kulissen verändert KI die Produktionsabläufe grundlegend: Algorithmen katalogisieren automatisch riesige Mengen an Rohmaterial mittels intelligenter Metadatenvergabe. Früher mussten Redakteure stundenlang Archive durchsuchen; heute genügt ein Klick auf Stichworte wie „Emotion“, „Torjubel“ oder „Protest“, um passendes Material sekundenschnell zu finden. Unternehmen wie IBM Watson Media oder AWS Rekognition bieten solche Lösungen bereits an – sie sparen Zeit und Ressourcen und ermöglichen eine effizientere Nutzung vorhandenen Materials.
In der Postproduktion erledigen neuronale Netze inzwischen Aufgaben wie automatisches Color Grading, Bildstabilisierung oder sogar die Entfernung unerwünschter Objekte aus dem Bild nahezu selbstständig. Adobe Sensei oder Blackmagic DaVinci Resolve setzen bereits erfolgreich auf solche Technologien – sie beschleunigen Arbeitsprozesse enorm und erhöhen gleichzeitig die Qualität des Endprodukts. Doch all diese technologische Perfektion hat ihren Preis: Der Stromverbrauch durch Datenzentren explodiert förmlich; laut Deloitte könnten sie bis 2030 bereits vier Prozent des globalen Stromverbrauchs ausmachen. Die KI-gesteuerte TV-Produktion ist also nicht nur effizienter – sie ist auch energiehungriger denn je.
Und dann bleibt da noch die Frage nach dem Menschlichen: Wo bleibt Raum für Zufall, Improvisation und Kreativität? Früher stolperte man beim Zappen zufällig über eine faszinierende Tiefsee-Dokumentation oder absurde Talkshow-Diskussionen; heute schlägt uns ein Algorithmus nur noch vor, was wir statistisch gesehen sowieso mögen sollten. Das Unvorhersehbare verschwindet hinter einer Fassade perfekter Personalisierung. Die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der Technik selbst – sondern darin, wie wir sie einsetzen wollen. Macht KI das Fernsehen besser oder nur berechenbarer? Wird sie uns neue Horizonte eröffnen oder lediglich unsere bestehenden Vorlieben bedienen? Die Antwort darauf liegt nicht in den Algorithmen verborgen – sondern bei uns selbst. Das Fernsehen stirbt nicht; es verändert sich nur ständig weiter. Von Schwarzweiß zu Farbe, von analog zu digital – und jetzt eben von menschlicher zu künstlicher Intelligenz. Doch so intelligent die Technik auch sein mag: Entscheidend bleibt am Ende immer noch die Frage nach dem Inhalt. Denn kein Algorithmus kann eine gute Geschichte ersetzen; keine KI wird jemals echte Kreativität imitieren können.
Die Zukunft des Fernsehens im Zeichen von KI ist also nicht das Ende des Fernsehens, wie wir es kennen. Es ist der Beginn eines neuen Kapitels. Eines Kapitels, das wir gemeinsam schreiben. Mit jeder Sendung, die wir anschauen. Mit jedem Kanal, den wir wechseln. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen.
Das Fernsehen ist tot. Lang lebe das Fernsehen.