Plattenbau-Poesie: Wie man aus Fußnägeln großes Fernsehen macht
Marzahn. Allein das Wort. Ein Synonym für graue Platte, graue Gesichter, graue Aussichten. Ein Ort, der in den Köpfen vieler längst zur Metapher geworden ist – für alles, was nicht glitzert, nicht glänzt, nicht hip ist. Und jetzt das: „Marzahn Mon Amour“ in der ARD-Mediathek. Eine Serie über Fußpflege in der Ostberliner Platte. Fußpflege! Man hört das und denkt sich: Das kann doch nur schiefgehen. Aber dann drückt man auf Play – und plötzlich ist da etwas, das man nicht kommen sieht: Wärme. Humor. Leben. Jördis Triebel als Kathi Grabowski, Mitte vierzig, gescheiterte Schriftstellerin, gescheiterte Ehefrau, irgendwie auch gescheiterte Mutter – und jetzt Fußpflegerin. Nicht aus Leidenschaft, sondern aus Notwendigkeit. Willkommen in der „Beauty Oase Marzahn“, einem Laden, der so heißt, wie man sich Marzahn eben vorstellt: ironiefrei und ein bisschen traurig. Aber dann geht die Tür auf, und es kommen Menschen herein – echte Menschen mit echten Geschichten. Und plötzlich ist dieser Ort alles andere als traurig.
Die Serie basiert auf Katja Oskamps Bestseller, und Regisseurin Clara Zoë My-Linh von Arnim hat es geschafft, daraus etwas zu machen, das weder kitschig noch klischeehaft ist. Stattdessen: eine Liebeserklärung an die Platte und ihre Bewohner. Die Kamera zoomt ran – an Füße voller Hornhaut und Geschichten voller Brüche. Alte Ostberliner Originale sitzen auf dem Behandlungsstuhl und erzählen von ihrem Leben: von der DDR, vom Mauerfall, von allem, was danach kam. Es sind keine großen Dramen, sondern kleine Alltagsgeschichten – aber genau darin liegt ihre Größe. Da ist der Rentner mit den Krampfadern und der Wut auf die Welt; die Frau mit den müden Augen und der Hoffnung auf ein bisschen Würde im Alltag; die Nachbarin mit dem losen Mundwerk und dem großen Herz. Und mittendrin Kathi Grabowski, die all das hört und versteht – weil sie selbst irgendwo zwischen Resignation und Neubeginn hängt.
„Marzahn Mon Amour“ erzählt von einem Berlin jenseits von Start-ups und Spätis, jenseits von Instagram-tauglichen Altbauwohnungen mit Stuckdecken. Es zeigt ein Berlin, das viele vergessen haben oder nie kennenlernen wollten: rau, direkt, manchmal unbequem – aber immer echt. Und genau das macht diese Serie so besonders. Sie hat keine Angst vor Nähe; sie schaut hin, wo andere wegsehen würden. Sie zeigt Füße in Großaufnahme – ja, Füße! – und macht daraus Kunst. Denn was passiert hier eigentlich? Menschen lassen sich berühren – physisch wie emotional –, und plötzlich ist da eine Verbindung: zwischen Fußpflegerin und Kunde, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Zuschauer und Serie.
Es gibt keine großen Gesten in „Marzahn Mon Amour“, keine dramatischen Wendungen oder spektakulären Twists. Stattdessen lebt die Serie von den kleinen Momenten: ein Lächeln im Spiegel des Salons; ein Satz, der mehr sagt als tausend Worte; ein Blick aus dem Fenster auf die grauen Plattenbauten, die plötzlich gar nicht mehr so grau wirken. Und dann sind da noch Jenny Chan (Yvonne Yung Hee Bormann) und Lulu Moll (Deborah Kaufmann), Kathis Kolleginnen im Salon – ein unschlagbares Team mit Herz und Schnauze. Sie rauchen vor der Tür, lachen laut, halten zusammen wie Pech und Schwefel. Der Salon wird zum Mikrokosmos eines Lebensgefühls: Hier ist nichts perfekt, aber alles echt.
Und doch bleibt eine Frage: Warum versteckt man diese Serie in der Mediathek? Warum läuft sie nicht zur besten Sendezeit? Vielleicht weil sie zu leise ist für eine Welt voller lauter Formate; vielleicht weil sie zu nah dran ist an einer Realität, die viele lieber ignorieren würden. Aber genau darin liegt ihre Stärke: „Marzahn Mon Amour“ hat keine Angst vor dem Banalen – es feiert es sogar. Es zeigt uns, dass Schönheit oft dort liegt, wo wir sie am wenigsten erwarten: in einem Fußpflegesalon in Marzahn.
Man will nach den sechs Folgen eigentlich nur eins: mehr davon. Mehr Geschichten aus der Platte; mehr Begegnungen mit diesen Menschen, die man sonst nie kennenlernen würde; mehr von dieser seltsamen Mischung aus Melancholie und Hoffnung, die einen noch lange begleitet. Und vielleicht will man auch nach Marzahn fahren – einfach nur um zu sehen: Gibt es diese „Beauty Oase“ wirklich? Und wenn ja: Kann man da einen Termin machen?