Die Kunst der Erzählung aus der Realität
Ein Drehbuch, wie es beim Spielfilm üblich ist, kann es im Dokumentarfilm per se nicht geben. Der Dokumentarfilm ähnelt in gewisser Weise der Geschichtsschreibung, die nachträglich Zusammenhänge herstellt und als fortlaufende Erzählung präsentiert. Durch Montage wird das oft heterogene Material des Dokumentarfilms zu einer narrativen Einheit geformt, wodurch eine Geschichte entsteht, die sich aus der Realität speist, aber erst durch filmische Gestaltung ihre Struktur erhält.
Zur Finanzierung eines Dokumentarfilms, beispielsweise durch Förderprogramme, ist es erforderlich, ein Treatment zu erstellen. Dieses basiert auf intensiver Recherche, beschreibt die Hauptfiguren, deren Konflikte und die erwartete Entwicklung der Handlung. Doch oft hat dieses Konzept nur bedingt mit der tatsächlichen Realität am Drehort zu tun. Denn während Spielfilme mit einem festen Drehbuch arbeiten, sind Dokumentarfilmer darauf angewiesen, sich der Unvorhersehbarkeit der Realität anzupassen. Gerade das macht den Reiz des Dokumentarischen aus: Es sind die ungeplanten, unvorhergesehenen Ereignisse während der Dreharbeiten, die den Film prägen. Daher findet die dramaturgische Arbeit größtenteils erst in der Montage statt, wo das gesammelte Material neu geordnet und in eine sinnvolle Erzählstruktur gebracht wird. Ein Dokumentarfilm könnte also erst nach seiner Fertigstellung ein präzises Drehbuch erhalten – oder auf andere Art formuliert: Die Montage selbst schreibt das filmische Buch.
Drehbuchentwicklung und Montage sind zwar verwandte Tätigkeiten, doch sie bedienen sich unterschiedlicher Mittel. Während das Drehbuch eine schriftliche Blaupause für den Film darstellt, arbeitet die Montage mit bereits existierendem, gefilmtem Material. Beide Prozesse zielen darauf ab, eine stringente Dramaturgie zu entwickeln, Szenen sinnvoll anzuordnen und Spannungsbögen aufzubauen. Im Dokumentarfilm ist es jedoch besonders wichtig, nicht nur dramaturgische Regeln zu befolgen, sondern auch der Realität gerecht zu werden. Die Kunst der Montage liegt weniger in technisch ausgefeilten Schnitten, sondern in der Interpretation und Neukontextualisierung des Materials. Die Montage verwandelt disparate Aufnahmen in eine stimmige, kohärente Erzählung, die dem Zuschauer einen emotionalen und inhaltlichen Zugang ermöglicht.
Das dokumentarische Arbeiten ist von der Realität abhängig, die oft nicht den dramaturgischen Idealen entspricht. Manche Ereignisse erscheinen zu unwahrscheinlich, um erfunden zu sein, während andere sich in ermüdender Langatmigkeit entfalten. Hier liegt die zentrale Aufgabe des Dokumentarfilmers: Er muss während des Drehs das Geschehen und das bereits gedrehte Material immer wieder hinsichtlich der Geschichte überprüfen, die er erzählen möchte. Gibt es ausreichend Material für einen spannenden Anfang? Lässt sich der Plot konsequent verfolgen? Wo liegt der Höhepunkt der Erzählung? Weil die Realität selten einer klassischen Dramaturgie folgt, müssen auch kleine, zunächst unscheinbare narrative Stränge erkannt und weiterverfolgt werden. Manche Filmemacher ziehen es daher vor, bereits während des Drehs mit der Montage zu beginnen, um frühzeitig erzählerische Lücken zu erkennen und gezielt weiteres Material zu drehen.
Die Wirklichkeit wird im Dokumentarfilm stets dramatisiert – nicht im Sinne von Verzerrung, sondern durch bewusste Interpretation und Zusammenstellung. Die Montage sorgt für Bedeutungszusammenhänge und vermittelt neue Perspektiven auf das gezeigte Material. Dabei ist der Dokumentarfilm notwendigerweise subjektiv: Auch wenn er sich der Realität verpflichtet fühlt, bleibt er eine filmische Konstruktion. Glaubwürdigkeit ist essenziell, um das Vertrauen des Publikums zu gewinnen, und wird durch bestimmte filmsprachliche Mittel erreicht. So kann eine ungeschnittene Szene einen Eindruck von Authentizität vermitteln, während das Thematisieren der eigenen filmischen Arbeit Transparenz schafft. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der fertige Film eine subjektive Sicht auf die Welt vermittelt. Dokumentarfilmer greifen bewusst in das Geschehen ein – sei es durch gezielte Fragen an die Protagonisten, durch Inszenierungen oder durch die Auswahl bestimmter Bildausschnitte. In der Montage wird schließlich endgültig entschieden, was gezeigt und was weggelassen wird. Somit ist der Film immer ein bewusst gestalteter Text.
Der Montageprozess selbst beginnt mit einer riesigen Materialfülle – oft mehrere Dutzend oder gar hunderte Stunden Filmaufnahmen. Ohne Bearbeitung ist dieses Material unstrukturiert und bedeutungslos. Der Editor muss es zunächst gründlich sichten, analysieren und verstehen. Seine Aufgabe besteht darin, aus dem rohen Material einen erzählerischen Fluss zu entwickeln. Dabei kommt ihm zugute, dass er beim Dreh nicht anwesend war: Ohne emotionale Bindung an bestimmte Szenen kann er objektiv entscheiden, welche Bilder tatsächlich relevant für die Geschichte sind. Tatsächlich kommt es häufig vor, dass sich das ursprüngliche Konzept eines Films während der Montage stark verändert, weil das gedrehte Material eine andere Erzählweise nahelegt. Dieser flexible Umgang mit der Realität ist eine der besonderen Herausforderungen des Dokumentarfilms.
Zu Beginn der Montage stellt sich immer wieder die zentrale Frage: Was ist die Geschichte? Welche Szenen können zu einer kohärenten Erzählung verbunden werden? Ein Erzählstrang besteht dabei mindestens aus drei Elementen – einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Einzelne Themen, wie zum Beispiel der Berufswunsch einer Figur, können sich als wiederkehrende Motive durch den gesamten Film ziehen. Manche Stränge entwickeln sich organisch, andere müssen bewusst gelenkt oder sogar gekürzt werden, um die dramaturgische Balance zu wahren. Dabei müssen auch inhaltliche Schwerpunkte gesetzt werden: Welche Themen verdienen besondere Aufmerksamkeit? Welche Aspekte sollten eher subtil eingeflochten werden? Die Entscheidung darüber liegt bei Regie und Montage, die sich fortlaufend abstimmen, um eine stimmige Struktur zu schaffen.
Ein weiteres zentrales Element der Dokumentarfilm-Montage ist die Figurenführung. Anders als im Spielfilm ist oft erst während der Montage klar, wer die eigentliche Hauptfigur des Films ist. Diese zentrale Figur wird intensiver und durchgängiger erzählt als Nebenfiguren, deren Erzählstränge oft verkürzt oder frühzeitig beendet werden. Eine besondere Herausforderung besteht darin, das Publikum emotional an die Figuren zu binden. Zuschauer identifizieren sich stärker mit sympathischen Protagonisten – weshalb in der Montage oft bewusst unsympathische Elemente abgeschwächt oder weggelassen werden. Gleichzeitig muss jedoch die Integrität der Darstellung gewahrt bleiben: Dokumentarfilmer tragen eine Verantwortung ihren Protagonisten gegenüber und dürfen deren Charaktere nicht verfälschen.
Auch der Erzählrhythmus spielt eine entscheidende Rolle: Ein Film muss bewusst Pausen und Atemräume einbauen, damit das Publikum das Gesehene verarbeiten kann. Ein hektischer Schnitt kann unterhaltsam sein, doch wirkliche emotionale Tiefe entsteht durch wohlüberlegte Ruhepunkte, in denen Bilder und Emotionen nachwirken können. Der Rhythmus entsteht durch die Länge und Abfolge von Szenen und muss individuell auf jeden Film zugeschnitten werden.
Schließlich ist die Montagearbeit auch eine Frage der dramaturgischen Ökonomie. Jedes filmische Element muss sich der Frage stellen: Wozu dient es? Welche Funktion erfüllt es für die Geschichte? Eine Szene, die inhaltlich wichtig, aber dramaturgisch schwach ist, kann eine Herausforderung darstellen – entweder muss sie geschickt eingebunden oder vollständig weggelassen werden. Letztlich besteht die Hauptaufgabe der Dokumentarfilm-Montage darin, aus dem vorhandenen Material die bestmögliche Geschichte herauszuarbeiten. Denn auch wenn das Leben selten perfekte Drehbücher schreibt, kann durch geschickte Montage dennoch eine mitreißende, authentische und tiefgründige Erzählung entstehen.